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Der kluge Herrscher bestraft jeden Widerstand und belohnt jede Unterstützung; er verlagert seine Truppen nach einem zufälligen Muster; er verbirgt wesentliche Elemente seiner Macht; er initiiert einen Rhythmus aus Gegenbewegungen, die jeden Widerstand aus dem Gleichgewicht wirft.
Westheimer Atreides, Grundlagen der Herrschaft
Seit Leto Vater geworden war, schien die Zeit noch schneller zu vergehen.
Der kleine Junge, der eine Spielzeugrüstung und einen Schild aus laminiertem Papier trug, marschierte mit tapsigen Schritten los und griff den salusanischen Stier wütend mit seiner federbesetzten Lanze an, um sich gleich darauf wieder zurückzuziehen. Der zweijährige Victor trug eine grüne Mütze mit dem roten Atreides-Wappen.
Leto, der auf den Knien hockte, zog lachend den Stoffstier hin und hier, um dem schwarzhaarigen Jungen, der sich immer noch recht unbeholfen bewegte, kein allzu leichtes Ziel zu bieten. »Mach es, wie ich es dir gezeigt habe, Victor.« Er bemühte sich, seine Belustigung durch eine todernste Miene zu kaschieren. »Sei vorsichtig mit der vara.« Er hob die Arme und demonstrierte ihm, wie er mit der Lanze umgehen musste. »Halte sie so, dann stoße sie seitlich in das Gehirn des Monsters.«
Gehorsam versuchte der Junge es noch einmal, obwohl er kaum die maßstabgerecht verkleinerte Waffe anheben konnte. Die stumpfe Spitze der vara prallte vom ausgestopften Kopf des Stiers ab, nicht weit entfernt von der weißen Markierung, die Leto dort angebracht hatte.
»Schon viel besser!« Er warf den Spielzeugstier beiseite und schloß den Jungen in seine Arme, um ihn dann hochzuheben. Victor kicherte, als Leto seine Brust kitzelte.
»Schon wieder?«, sagte Kailea in missbilligendem Tonfall. »Leto, was machst du da?« Sie stand mit ihrer Hausdame Chiara in der Tür. »Bring ihm nicht bei, Spaß an diesem Unsinn zu haben. Willst du, dass er eines Tages so stirbt wie sein Großvater?«
Mit verkniffenem Gesichtsausdruck wandte sich Leto an seine Konkubine. »Es war nicht die Schuld des Stiers, Kailea. Das Tier wurde von Verrätern unter Drogen gesetzt.« Der Herzog erwähnte nichts von seinem größten Geheimnis, dass nämlich Letos Mutter mit der Verschwörung zu tun gehabt hatte und Lady Helena aus diesem Grund in ein primitives Kloster der Einsamen Schwestern verbannt worden war.
Kaileas Blick verriet ihm, dass er sie noch nicht überzeugt hatte. Also versuchte er es auf andere Weise. »Mein Vater betrachtete sie als edle und großartige Tiere. Sie in der Arena zu besiegen, erfordert sehr viel Geschick und Mut.«
»Trotzdem finde ich, dass dieses Spielzeug nicht für unseren Sohn angemessen ist.« Kailea warf Chiara einen Seitenblick zu, als erwarte sie Unterstützung von der älteren Frau. »Er ist erst zwei Jahre alt.«
Leto zauste das Haar des Jungen. »Es ist niemals zu früh, mit der Kampfausbildung zu beginnen. Das findet sogar Thufir. Mein Vater hat mich nie geschont, und ich werde Victor auch nicht verhätscheln.«
»Ich bin mir sicher, dass du es am besten weißt«, sagte sie mit einem resignierten Seufzer, aber ihr unruhiger Blick drückte das Gegenteil aus. »Schließlich bist du der Herzog.«
»Es wird Zeit für Victors Unterricht, meine Liebe.« Chiara blickte auf ihr juwelenbesetztes Armbandchrono, ein antikes richesisches Stück, das sie auf Kaitain gekauft hatte.
Victor schaute mit enttäuschter Miene zu seinem Vater auf. »Na, dann los!« Leto klopfte ihm auf den Rücken. »Ein Herzog muss viele Dinge lernen, und nicht alle machen so viel Spaß wie das hier.«
Der Junge schien sich einen Moment lang sträuben zu wollen, doch dann stapfte er auf seinen kurzen Beinen durch den Raum. Chiara hob ihn mit einem großmütterlichen Lächeln auf und brachte ihn in ein privates Unterrichtszimmer im Nordflügel der Burg. Swain Goire, der für Victor verantwortliche Wachmann, folgte der Hausdame. Kailea blieb im Spielzimmer, während Leto sich mit einem Handtuch den Hals trocknete und einen Schluck aus einem Krug mit kühlem Wasser nahm.
»Warum bespricht sich mein Bruder jedes Mal mit dir, bevor er irgendetwas zu mir sagt?« Er bemerkte, dass sie aufgeregt und verunsichert war. »Stimmt es, dass er und diese Frau darüber reden, irgendwann zu heiraten?«
»Nicht ernsthaft. Ich glaube, es war eher eine Art Schnapsidee von ihm. Du weißt, wie lange es dauert, bis Rhombur sich endlich dazu durchringt, etwas zu tun. Vielleicht eines Tages.«
Missbilligend presste sie die Lippen aufeinander. »Aber sie ist nur eine ... eine Bene Gesserit. Ohne adliges Blut.«
»Eine Bene Gesserit war auch für meinen Cousin, den Imperator, gut genug.« Leto erwähnte nichts von den Schmerzen in seiner Seele. »Es ist seine Entscheidung, Kailea. Auf jeden Fall scheinen sie sich zu lieben.« Er und Kailea hatten sich voneinander entfernt, nachdem ihr Sohn auf die Welt gekommen war. Vielleicht hatte es auch in dem Moment begonnen, als Chiara eingetroffen war und all den Klatsch und die phantastischen Geschichten über den imperialen Hof mitgebracht hatte.
»Lieben? Seit wann ist das ein ausreichender Grund für eine Heirat?« Ihre Miene verdüsterte sich. »Was hätte dein Vater, der große Herzog Paulus Atreides, zu einer solchen Heuchelei gesagt?«
Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, ging zur Tür des Spielzimmers und schloss sie, damit niemand ihr Gespräch mithören konnte. »Du weißt, warum ich dich nicht zur Frau nehmen kann.« Er erinnerte sich an die furchtbaren Kämpfe, die seine Eltern hinter den dicken Türen ihres Schlafzimmers ausgefochten hatten. Er wollte nicht, dass mit Kailea und ihm dasselbe geschah.
Ihre zarte Schönheit wurde durch ihr Missfallen getrübt. Kailea schüttelte den Kopf und ließ die Locken ihres kupferroten Haars auf den Schultern hüpfen. »Unser Sohn sollte eines Tages der Herzog Atreides werden. Ich habe gehofft, du würdest deine Meinung ändern, wenn du ihn etwas besser kennen gelernt hast.«
»Hier geht es nur um Politik, Kailea.« Letos Gesicht rötete sich. »Ich liebe Victor sehr. Aber ich bin der Herzog eines Großen Hauses. Ich muss zuerst an das Haus Atreides denken.«
Jedes Mal, wenn sich der Landsraad versammelte, ließen die anderen Häuser ihre heiratsfähigen Töchter vor Leto aufmarschieren, in der Hoffnung, ihn betören zu können. Die Atreides waren weder die reichste noch die mächtigste Familie, aber Leto war beliebt und respektiert, insbesondere seit seinem mutigen Einsatz während des Verwirkungsverfahrens. Er war stolz auf das, was er auf Caladan erreicht hatte ... und wünschte sich, Kailea wüsste es ebenfalls zu schätzen.
»Und Victor ist nicht mehr als ein Bastard.«
»Kailea!«
»Manchmal hasse ich deinen Vater wegen der idiotischen Ideen, die er dir eingetrichtert hat. Da ich dir keine politischen Allianzen anzubieten habe und ich keine Mitgift und keine Stellung habe, bin ich für dich als Ehefrau nicht akzeptabel. Aber da du Herzog bist, kannst du mir jederzeit befehlen, mit dir ins Bett zu steigen, wenn dir danach ist.«
Es schmerzte ihn, wie sie ihre Unzufriedenheit formulierte, aber nun konnte er sich vorstellen, was Chiara zu Kailea sagte, wenn die Frauen unter sich waren. Das war die einzig sinnvolle Erklärung. Leto mochte die Hausdame nicht besonders, aber wenn er sie entließ, würde er damit die wenigen noch vorhandenen Brücken zu Kailea niederreißen. Die beiden Frauen ergingen sich gemeinsam in Vornehmheiten, pflegten abgehobene Konversation und imitierten die Moden des Imperiums.
Er starrte aus dem Plazfenster und dachte daran, wie glücklich Kailea und er noch vor wenigen Jahren gewesen waren. »Das habe ich nicht verdient, nicht nach allem, was meine Familie für dich und deinen Bruder getan hat.«
»Oh, verbindlichsten Dank! Aber deinem Image hat es auch nicht unbedingt geschadet, nicht wahr? Du hilfst den armen Flüchtlingen von Ix, damit dein geliebtes Volk sieht, was für ein wohltätiger Herrscher du bist. Der noble Herzog Atreides! Aber wer dich genauer kennt, weiß, dass du auch nur ein Mensch bist und nicht die Legende, als die du dich darzustellen versuchst. In Wirklichkeit bist du überhaupt nicht der Held des einfachen Volkes, wie du dir gerne einbildest. Wenn du es wärst, würdest du nämlich nicht ...«
»Genug! Rhombur hat das Recht, selbst zu entscheiden, ob er Tessia heiraten will. Falls er es will. Das Haus Vernius ist vernichtet, und er muss keine politischen Rücksichten mehr nehmen.«
»Es sei denn, seine Rebellen erobern Ix zurück«, entgegnete sie. »Leto, sag mir die Wahrheit: Hoffst du insgeheim, dass die Freiheitskämpfer erfolglos bleiben, damit du weiterhin einen Grund hast, mich nicht zu heiraten?«
Leto war entsetzt. »Natürlich nicht!« Kailea, die offenbar dachte, gewonnen zu haben, stürmte aus dem Raum.
Als er allein war, dachte er darüber nach, wie sehr sie sich verändert hatte. Jahrelang war er bis über beide Ohren in sie verliebt gewesen, lange bevor er sie zu seiner Konkubine gemacht hatte. Er hatte ihre Nähe gesucht, auch wenn er ihr nicht so nahe gekommen war, wie sie es sich gewünscht hätte. Anfangs hatte sie ihn in jeder Hinsicht unterstützt, doch dann entwickelte sie zu viel Ehrgeiz und machte ihm das Leben unvorstellbar kompliziert. In letzter Zeit hatte er sie zu häufig beobachtet, wie sie sich vor dem Spiegel als Königin herausgeputzt hatte – aber diese Rolle würde sie nie mehr spielen dürfen. An den Tatsachen ihres Lebens konnte auch er nichts ändern.
Doch die Freude, die sein Sohn ihm bereitete, wog alle anderen Probleme auf. Er liebte den Jungen mit einer Intensität, die ihn selbst überraschte. Er wollte nur das Beste für Victor, dass er zu einem guten und ehrenhaften Mann in der Tradition der Atreides heranwuchs. Auch wenn er das Kind nicht offiziell zu seinem Erben ernennen konnte, wollte Leto ihm den besten Start ins Leben ermöglichen. Eines Tages würde Victor all das verstehen, was seine Mutter nicht verstehen wollte.
* * *
Der Junge saß an einer Lernmaschine und beschäftigte sich mit Spielen, bei denen es um die Zuordnung von Formen und Farben ging. Währenddessen unterhielten sich Kailea und Chiara leise. Victor drückte Knöpfe in schneller Reihenfolge und erzielte für sein Alter bemerkenswert hohe Punktzahlen.
»Mylady, wir müssen etwas gegen die Pläne des Herzogs unternehmen. Er ist ein sehr störrischer Mann und beabsichtigt, eine Heiratsallianz mit einer mächtigen Familie zu schließen. Der Erzherzog Ecaz hat es auf ihn abgesehen, wie ich höre, und will ihm eine seiner Töchter anbieten. Ich vermute, Letos angebliche diplomatische Vermittlung im Moritani-Ecaz-Konflikt ist nur Rauch, der seine wahren Absichten verhüllen soll.«
Kailea kniff die Augenlider zu schmalen Schlitzen zusammen, als sie darüber nachdachte. »Leto reist nächste Woche nach Grumman, um mit dem Grafen Moritani zu reden. Er hat keine Töchter im heiratsfähigen Alter.«
»Er sagt, dass er dorthin reist, mein Kind. Aber der Weltraum ist weit, und wenn Leto einen kleinen Abstecher macht, werden Sie nie davon erfahren. Nach all den Jahren am Hof des Imperators verstehe ich solche Dinge viel zu gut. Wenn Leto einen offiziellen Erben zeugt, wird er Victor fallen lassen. Dann ist der Junge für ihn nur noch ein Bastard ... und Ihre Stellung auf Caladan ist ruiniert.«
Kailea ließ den Kopf hängen. »Ich habe alles gesagt, wozu du mir geraten hast, Chiara, aber ich weiß nicht, ob ich ihn vielleicht zu sehr unter Druck setze ...« Hier, wo Leto sie nicht sehen konnte, gab sie sich keine Mühe mehr, ihre Unsicherheit und Angst zu verbergen. »Ich bin so verzweifelt. Es scheint, dass ich überhaupt nichts tun kann. Wir beide waren uns einmal so nahe, aber jetzt ist so vieles schief gelaufen. Ich hatte gehofft, unser Sohn würde uns wieder zusammenbringen.«
Chiara schürzte die runzligen Lippen. »Ach, meine Liebe, in alten Zeiten wurden solche Kinder, die den Zusammenhalt einer Familie garantieren sollten, als ›menschlicher Kitt‹ bezeichnet.«
Kailea schüttelte den Kopf. »Stattdessen hat Victor das Problem für jeden deutlich sichtbar gemacht. Manchmal glaube ich sogar, dass Leto mich hasst.«
»Es ist noch nicht alles verloren, wenn Sie mir vertrauen, Mylady.« Chiara legte der jungen Frau beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Als Erstes sollten Sie mit Ihrem Bruder reden. Fragen Sie Rhombur, was er tun kann.« Ihre Stimme klang freundlich und vernünftig. »Der Herzog hört stets auf das, was er sagt.«
Kaileas Miene hellte sich auf. »Das könnte funktionieren. Zumindest kann es nicht schaden, es zu versuchen.«
* * *
Sie sprach mit Rhombur in seiner Suite in der Burg. Er hantierte mit Tessia in der Küche und half ihr bei der Zubereitung eines Salats mit einheimischen Zutaten. Mit einem amüsierten Lächeln, das Kailea auf die Nerven ging, hörte Rhombur seiner Schwester aufmerksam zu, während er auf der Anrichte roten Seekohl zerschnitt.
Er schien ihre Probleme gar nicht richtig zu begreifen. »Du hast kein Recht, dich über irgendetwas zu beschweren, Kailea. Leto hat uns fürstlich behandelt – äh ... insbesondere dich.«
Sie stieß ein verärgertes Schnaufen aus. »Wie kannst du so etwas sagen? Für mich steht viel mehr auf dem Spiel, seit ich Victor habe.« Sie wusste nicht, ob sie als Nächstes wütend aufbrausen oder deprimiert zusammenbrechen sollte.
Tessia blinzelte mit den sepiabraunen Augen. »Rhombur, für euch beide wäre es das Beste, wenn die Tleilaxu besiegt werden. Sobald ihr das Haus Vernius wieder in den früheren Stand versetzt habt, werden all eure anderen Probleme irrelevant.«
Rhombur gab seiner Konkubine einen Kuss auf die Stirn. »Sicher, meine Liebe. Aber meinst du nicht, dass ich es bereits versuche? Seit Jahren schicken wir C'tair heimlich Geld, aber ich weiß immer noch nicht, wie es den Rebellen ergeht. Hawat hat einen neuen Spion nach Ix geschickt, aber auch dieser Mann ist spurlos verschwunden. Wer Ix erobern will, hat eine harte Nuss zu knacken. Wir selbst haben dafür gesorgt, dass es so ist.«
Tessia und Kailea überraschten sich gegenseitig, als sie gleichzeitig erwiderten: »Dann musst du dir noch mehr Mühe geben!«